Rezension: „U N B E H A U S T E“ – Geschichten um Flucht und Heimatsuche, Herausgegeben von Alexander Broicher – mit 23 Texten zeitgenössischer Autorinnen und Autoren wie Ramona Raabe, Chris Silber, Moritz Rinke, u.v.m.
Angaben zum Buch:
Anthologie (Prosa).
Erste Auflage erschienen am 26. November 2015 bei Nicolaische Verlagsbuchhandlung.
Broschiert, 204 Seiten, 9,95 €
ISBN-13: 978-3894797126
Kurzbeschreibung: 23 Autoren schreiben über das Gefühl des Unbehaustseins. Über Grenzen und Grenzerfahrungen. Über Heimat, Flucht, Reise und Suche. Über jene, die man liebt, und Orte, an denen man sich behaust fühlt.
Unbehauste ist eine Anthologie zeitgenössischer Beiträge um Flucht und Heimatsuche von 23 Autorinnen und Autoren, herausgegeben von Literaturpreisträger Alexander Broicher.
Alle 23 Autoren und der Verlag möchten helfen: Ein Teil des Verkaufserlöses kommt der Flüchtlingshilfe zugute.
Buch des Monats (Januar 2016) beim Norddeutschen Rundfunk (NDR)
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Die innere Emigration: Buchbesprechung „Unbehauste“
von Daniel Khafif
Herkunft, Identität, Zugehörigkeit – die Fragen danach ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte und finden in der heutigen Zeit eine Relevanz, welche unsere Welt vor neue Aufgaben stellt., schildert der Nikolai – Verlag treffend auf seiner Website zur Veröffentlichung von „Unbehauste“.
Fürwahr: Das Jahr 2015 markiert in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt in der jüngeren europäischen Geschichte: Füllten über viele Monate erst der Brandherd Ukraine, dann die Schuldenkrise Griechenlands und weiterer EU – Staaten die Schlagzeilen, ist spätestens seit Sommer der wachsende Flüchtlingsstroms zur größten Herausforderung für die Europäer geworden. Die Bilder eines ertrunkenen, an den Strand gespülten Jungen, zeigten die ganze Dramatik: Sie empörten und bewegten die Menschen, sorgten als Mind Changer für einen Stimmungswandel auch in der Politik, welche bis dahin die Folgen jahrelanger Kriege nicht im Fokus sah.
Krisen und Kriege
Doch im Gegensatz zur Euro- und Finanzkrise und einher gehender Sanierungsversuche, zu fragilen, aber immerhin fixierten Regelungen für die Ukraine (Minsk II), ja zu kontrovers wie konstruktiv geführten Referenden um Autonomiebestrebungen Schottlands oder Kataloniens erweist sich die Flüchtlingskrise als das was sie ist: Eine dauerhafte Krise.
Die Problematik scheint, gerade im Kanon voran gegangener Krisen, nicht von temporärer, sondern von chronischer Dauer. Die Krise wird zur Regel, nicht zur Ausnahme. Denn die Kriege, welche zahllose Opfer fordern, veranlassen, die, die Überleben, zum Verlassen ihrer Heimat, zur Flucht. Kriegsparteien jeder Couleur bringen die Menschen um. Entführen Sie. Oder vertreiben sie. Entvölkern ganze Regionen. Und da die Situation ist, wie sie ist, suchen die Menschen, wie schon so oft in der Geschichte, ihr Heil in der Fremde.
Was uns alle vereint
Fliehende jeder Gesellschaftsschicht sehen keine Zukunft in ihrer Heimat mehr, fürchten um ihr Leben, emigrieren. Über Kriegsgründe und Ursachen berichten die Medien täglich und zuhauf. Lauter Schicksale von Opfern, die einst eine Vergangenheit besaßen, nun vielleicht nicht mal eine Zukunft. Sie fliehen vor der Gegenwart, meist vor einer Ursache, nämlich der Gier nach Macht. Was uns alle mit den Fliehenden vereint, so unterschiedlich wir scheinen mögen, ist ein Gedanke: Hoffnung.
In „Unbehauste“ sprechen dagegen viele Stimmen, zeigen andere Perspektiven, schreiben sehr unterschiedliche Autorinnen und Autoren couragiert Geschichten der Migration, die sehr nah gehen, berühren und aus der Masse der Flüchtlinge, dem „Wort des Jahres 2015“ den Menschen ihr Wesen zurück geben, ihre Individualität. Sie zeigen, daß da kein grauer Block unterwegs ist, sondern einzelne Menschen, jeder mit einem eigenen Schicksal und eigener Erfahrung. Das, was alle eint, ist auch das, was jeden von uns eint: Hoffnung.
Schreiben mit szenischem Blick
Der Reigen beginnt mit einer Geschichte des Schriftstellers Moritz Rinke, führt souverän und packend in den tiefen Ton, der vielen Erzählungen des Werkes eigen ist. Die Erzählung von Ramona Raabe beispielsweise schildert die Erinnerungen eines Immigranten, der seiner Liebe nach Deutschland folgte, welche aber seit langer Zeit verstorben ist. Sie fehlt an seiner Seite und die Erinnerungen an seine Partnerin hält er in seinem Laden wach. Kunden, die sich für Waten seines Ladens interessieren, hält er auf Abstand. Er blickt in die Vergangenheit. Die Gegenwart versteht er nicht. Oder will sie nicht verstehen. Autorin Raabe beschreibt das Wechselspiel aus innerem Monolog und äußerem Schein, dem Blick der Kunden, virtuos: Intensiv, nah und verletzlich. Einfühlsam. Aber mit leichtem Duktus. Schnell und temporeich dagegen die Sprache des renommierten Autoren Christoph Silber, der als szenischer Schreiber gekonnt filmische Elemente in seiner Novelle verwendet. Chris Silber,selbst viel unterwegs, bewegt das Thema Migration. So ist sein Schaffen derzeit auch in den Kinos sichtbar: Silber schrieb die Drehbuchfassung von Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“.
Innerer Monolog und Perspektivenwechsel
Auch der Herausgeber des Buches, Alexander Broicher, ist mit einer eigenen Geschichte in „Unbehauste“ vertreten: Seine Erzählung spielt auf dem Wasser, in der Nacht, auf hoher See. Im Schutz des Dunkels versuchen Flüchtende, oder sind es gar Piraten, auf ein Schiff zu gelangen. Sie sitzen in einem Zodiac, einem schnellen Schlauchboot, führen Waffen mit sich. Sie orientieren sich am Geruch der Schiffsmotoren. Dieselqualm, der sich langsam auf die Wasseroberfläche senkt. Ihre Gedanken sind voller Hoffnung, Angst, aber auch Zorn, Gier, Unmut.
Auch Broicher versteht das Spiel aus äußerer Wahrnehmung und innerem Monolog gekonnt, zeigt, daß er ebenfalls die Stilmittel des Kinofilms beherrscht. Und so geht es in der vorliegenden Anthologie weiter: Packende Geschichten, dichte Bilder und virtuose Sprachtechniken, deren Unterschiedlichkeit den Reiz diese Buches ausmacht. Es ist ein spannendes und dank der Novellenform auch kurzweiliges Leseabenteuer, welches uns die engagierten 23 Autorinnen und Autoren in „Unbehauste“ bescheren.
Januar 2016: „UNBEHAUSTE“ ist Buch des Monats (NDR)
Unbehauste weckt Neugier auf das Verborgene im Fremden, auf das Verborgene, was wir alle in uns tragen, Neugier, Hoffnung, Lebenswillen. Die Anthologie ist nicht nur inhaltlich und stilistisch ein bemerkenswertes Buch, das im Januar 2016 völlig zu Recht im Norddeutschen Rundfunk (NDR) zum „Buch des Monats“ gekürt wurde, sondern auch hinsichtlich des Engagements: Sämtliche Autorinnen und Autoren, die ihre Schöpfungen für „Unbehauste“ lieferten, helfen Menschen in Not: Der Erlös aus dem Verkauf des Buches geht an die Flüchtlingshilfe. So können Schreiber und Leser beim Schreiben und Lesen helfen. Aktuell (Einsendeschluss ist der 31. Januar 2016) gibt es Unbehauste auch beim NDR zu gewinnen.
Schreiben, Lesen und Helfen
Die Entstehungsgeschichte dieses Buches voller Geschichte ist ebenfalls faszinierend: In weniger als zwei Monaten gelang den Akteuren um Herausgeber Broicher die Herkulesaufgabe, aus einer Idee heraus ( „Wie können wir Autoren den Flüchtlingen helfen“) , die Suche nach 23 versierten Autorinnen und Autoren zu realisieren. Künstlerinnen und Künstler, die also die nicht nur zusagen, sondern auch in Rekordzeit ihre Geschichten herstellen mußten. Dazu die Suche nach einem Verlag, der ausgerechnet zum Weihnachtsgeschäft ebenfalls ausgewählt werden sollte. Für Unbehauste ist dies nun die Nikolaische Verlagsbuchhandlung geworden, die hier beherzt und unkompliziert der Idee zur Form verhalf. Ein Meisterstück!
Und auch der Titel „Unbehauste“ spiegelt die Sensibilität der Autorengruppe wieder, welche zwar zügig, doch ohne Hast der Situation und den Menschen einen gebührenden Rahmen bieten wollte. Als das Buch auf einer Mainzer Lesebühne vorgestellt wurde, schilderte Autorin Ramona Raabe, wie es zu dem Titel kam: „Wir wollten einerseits kundtun, daß es sich bei den Flüchtenden um Menschen handelt, deren elementarster Wunsch zunächst etwas so Selbstverständliches ist, wie ein Dach über dem Kopf. Was sie früher einmal hatten.
„Trotz intensiver Produktion inne halten, heißt, den Rahmen wahren“ (Ramona Raabe, Autorin)
Und vier Wände dazu. Aber „Obdachlose“ konnotiert eher die eigenen Schutzsuchenden im Lande, nicht die Emigrierenden. Und „Flüchtlinge“ erschien uns als Begriff allmählich zu strapaziert. Gerade in dieser intensiven Produktionsphase legten wir Wert darauf, inne zu halten und den Rahmen der Geschichten, Menschen und Worte als Wert zu wahren. Zudem zeigt „Flüchtling“ permanente Bewegung. Aber einmal im Zielland, in Sicherheit angekommen, geht die Unruhe ja für die Meisten weiter: Wo schlafen sie? Wo wohnen sie? Wie wohnen sie? Deshalb haben wir die Menschen, um die es in unserer Anthologie geht, mit „Unbehauste“ tituliert. Es ist ein Begriff, der auf eine unheimliche, drängende Situation hinweist, welcher aber dennoch würdevoll klingt!“.
Resümè:
Die Verfasser des Werks „Unbehauste“ haben sich also neben ihren eigenen Erzählungen und Figuren auch mit Gedanken um Rahmen und Ansprache auseinandergesetzt. So ist trotz – oder gar wegen – der knappen Produktionsphase kein Schnellschuß, im Gegenteil wohl aber ein packendes, temporeiches wie einfühlsames Buch gelungen, das schon jetzt viel Applaus bei Lesungen und Buchvorstellungen erhält.
Das Format, im handlichen Paperback, doch mit feiner Typo und sehr haitischem, lesevergnüglichem Papier, lädt geradezu ein, „Unbehauste“ nicht daheim, sondern, eben, unterwegs, in der Metro, im Zug, auf Reisen zu lesen. Bewegt zu lesen. Denn das Lesen bewegt. Und hilft.
Weitere Informationen:
Unbehauste – das Buch des Monats beim NDR hier zu gewinnen
Direkte Bezugsquelle von Unbehauste bei der Nikolaischen Verlagsbuchhandlung hier.