Die Entfesselung der Nemesis:
Schwarzblende, der aktuelle Thriller von Zoë Beck,
Heyne Verlag München, 2015. Roman, 416 Seiten, 9,99 €
Eine Rezension von Daniel Ulf Khafif
Wie beschreibt man das Unbeschreibliche? Welche Worte finden wir für die Blutspur, welche die Internationale des Terrors unter dem schwarzen Schleier des IS in die Welt trägt? Welche Motive treiben scheinbar durchschnittliche Jugendliche, sich als Kurzfrist-Konvertiten, als günstiges Kanonenfutter für die blinde Wut mörderischer Ideologien missbrauchen zu lassen?
Und wer profitiert letztendlich vom Feldzug der Nemesis, der griechischen Göttin des Zorns, Tochter der Nyx, der ewigen Nacht?
Schriftstellerin Zoë Beck, die mit sezierender Schärfe seit Jahren unermüdlich die verborgenen Neuralgien unserer Existenz spannend wie tiefgründig in ihren Werken offen legt, beschreibt in ihrem jüngsten bei Heyne erschienenen Thriller „Schwarzblende“ die Genesis des Dunkels, welche wie ein Virus die zertrümmerten Seelen vieler Ohnmächtiger befällt, um sich irgendwann unbarmherzig in Mord und Terror auszugestalten.
Totalitäre Ideologien, gleich, ob sie religiöser oder politischer Verblendung folgen, sind ihrem Wesen nach faschistoid, fordern nichts Weniger als völlige Unterwerfung, Gleichschaltung – und am Ende totale Macht. Nicht zufällig keimte die Saat des Totalitarismus, ob Muslimbrüder, NS-Ideologen oder Stalinisten zeitgleich unter den sozialen Ruinen, die der erste Weltkrieg hinterließ. Zoë Beck zeigt in „Schwarzblende“ die Kohärenz aus Ohnmacht, Unterwerfung und Macht, welche sukzessive in unseren mortal coil aus erlebter Angst, Sicherheitsbedürfnis und schließlich staatlicher Kontrolle führt. Infolge dessen, so scheint es, taumeln wir alle am Abgrund unseres Wertesystems, denn wenn wir die „Freiheit aufgeben, um Sicherheit zu gewinnen, verlieren wir am Ende beides“, um Benjamin Franklin zu zitieren.
Niall Stuart, ein junger Kameramann aus London, recherchiert Drehorte für einen Dokumentarfilm zur Wasserwelt der britischen Hauptstadt. Sein Weg führt zur Brücke nahe des Dienstsitzes des britischen Auslandsgeheimdienstes MI-6, von wo aus auch das Gebäude des Inlandsdienstes MI-5 auf der anderen Themseseite betrachtet werden kann. Zwei Männer, die ganz unbekümmert mit Macheten in ihren Händen durch die Straßen schlendern, wecken Nialls Neugier. Wird hier ein Film gedreht? Die Macheten müssen Staffage sein, glaubt Niall. Er folgt den beiden, mit eingeschalteter Kamera auf seinem Smartphone …und erlebt, wie die Beiden einen jungen Mann jäh attackieren, verletzen und bestialisch vor seinen Augen hinrichten. Die Waffen waren echt. Ein Mord, am helllichten Tage, mitten in der belebten City. Passanten schreien, fliehen, rufen die Polizei. Niall, erstarrt vor Entsetzen, nimmt die gesamte Szene wie hypnotisiert mit seinem Handy auf. Einer der beiden Angreifer, welche Nialls Beobachtung bemerken, schreitet zu ihm und bekennt sich „im Namen Allahs“ zu dem Attentat, während der Andere stolz die schwarze Flagge des islamischen Staates vor die Kamera schwenkt.
Niall, nicht mehr in der Lage zu fliehen, fürchtet um sein Leben, doch die Mörder drängen ihn, weiter mit der Kamera das Geschehene zu dokumentieren, um „aller Welt zu zeigen“, welche Macht der IS nun auch im Herzen der westlichen Metropolen entfalten wird. Sie erklären, bei dem Ermordeten handele es sich um einen Soldaten, in zivil, der das Leid in den Nahen Osten getragen habe und nun dafür zahlen musste. Während sich Niall fragt, ob und wie er all das Unbegreifliche überleben wird, stürmen herbeigerufene Einsatzkräfte der Polizei den Tatort und erschießen einen der Attentäter, welche nicht die geringste Anstalt zur Flucht unternehmen, ja bis zum Schluß stolz vor ihrem Opfer verweilen. Auch Niall wird von den Spezialeinheiten überwältigt, geschlagen – und qua unterstellter Komplizenschaft festgenommen.
Benommen wie betäubt findet er sich plötzlich in einem Hochsicherheitstrakt wieder, bar jeder Rechte, ohne Anwalt, ohne Gehör, dem Haß des Wachpersonals ausgeliefert. Während Niall langsam begreift, dass sein bis dato unauffälliges Leben schlagartig vorbei ist, stellen Agenten seine Wohnung auf den Kopf, filtern Konten, Dokumente, Onlinedaten und sämtliche Bewegungsprofile des jungen Kameramanns. Als den Ermittlern nicht nur die Willkür des Zufalls, sondern auch die familiäre Verbindung Nialls zu höchsten Kreisen der Londoner Gesellschaft offenbar wird, wandeln sie seinen Status vom dringend Verdächtigen hin zum wertvollen Augenzeugen. Er kommt frei.
Doch Nialls Freiheit bleibt beeinträchtigt: Er lud seine vollständige Aufnahme des barbarischen Mordes auf einen irrtümlich ungesicherten Onlinekanal, der mittlerweile angezapft und auf sämtlichen Medienformaten verbreitet wurde. Über Nacht wurde aus dem unbekannten Filmemacher ein Starreporter mit zweifelhaftem Ruhm. Niemals wollte er so werden, wie Leonard Huffman, sein berühmter Vater, ein renommierter Kriegsfotograf, der stets nahe weltweiter Frontlinien, aber fern seines Sohnes blieb. Niall fühlte sich eher seinem Onkel Carl, einem leitenden Beamten der Gesundheitsbehörde und dessen Ex-Frau, Karen, welche nunmehr als Innenministerin des Landes in zentraler Funktion stand, hingezogen.
Die Gegenwart des Verborgenen
Noch ahnt Niall nicht, welch verwobenes Netz aus der Vergangenheit seines Vaters, seines Onkels und seiner Tante mit dem aktuellen Attentat in Londons City sich um sein Leben spannt, doch er fühlt die Glut im Schacht, spürt, dass das Verborgene an die Oberfläche drängt. In den Medien wird er teils als Held, teils als sensationslüsterner Voyeur, ja als Monster bezeichnet. Jegliche Versuche Nialls, in sein normales Leben zurück zu kehren, scheitern. Er begreift, dass sein Name nun mit einem der spektakulärsten Mordfälle Großbritanniens, einem Terrorakt assoziiert wird – und tritt die Flucht nach vorne an:
Seine Wohnung Tag und Nacht von Journalisten umlagert, völlig abgebrannt, nimmt er ein lukratives Angebot eines TV-Senders an, in einer Talk-Show den Zuschauern seine Sicht des Geschehenen zu erläutern. Spätestens als ihn die ebenfalls geladene Mutter des ermordeten Kadetten vor laufenden Kameras ohrfeigt, begreift Niall, dass er sich der Gegenwart anders stellen muß. Leonard Huffman sucht Niall auf und unterbreitet ihm das Angebot, die Hintergründe des Attentats, das Profil der Täter, ihre Beweggründe, ihr Umfeld dokumentarisch als TV-Produktion aufzubereiten. Ein Kamerateam, solides Honorar, sichere Verwertungskette und die unschätzbar wichtige Fürsprache seines Vaters würden ihm für diese Recherche bereit stehen. Zunächst lehnt Niall ab. Zu nah erscheint ihm das plötzliche Drängen seines Vaters und zu gewillt scheint er der Verpflichtung seines ursprünglichen Filmauftrags für die Themse-Dokumentation nachzukommen. Doch nach anfänglichem Zögern besucht er bald die Archivarin von Huffmans fotografischem Bestand. Diese eröffnet ihm bislang unbekannte Seiten seines Vaters, die Nialls Zorn auf Huffman etwas bremsen. Mit einer Mischung aus Neugier, finanziellem Druck wie der erlangten Erkenntnis, das bisherige Leben an einem Wendepunkt zu wissen, entscheidet sich Niall bald für den Auftrag Huffmans.
Niall leitet die inhaltliche Konzeption des Films – doch Beth, seine durch und durch professionelle Producerin, zieht ihn mit ihrer analytischen, ja, kriminologischen Spürnase nach und nach in das Labyrinth der Hintergründe, welche nur auf den ersten Blick zur zufälligen Wahnsinnstat zweier frustrierter Verblendeter führten. Je stärker die Filmcrew am Fundament der Ursachen rüttelt, desto schneller wird es, ja, wird Niall selbst zur Zielscheibe der Drahtzieher: Im Verlauf der Filmarbeiten folgen weitere Anschläge, und Großbritannien befindet sich in Aufruhr. Die Innenministerin, Tante Karen, zeigt entschlossene Härte und spricht, auch hinsichtlich kommender Wahlen, vor Nialls Filmteam die Begriffe „Krieg“ und „Maßnahmen“ an. Niall entwickelt sich nun vom Auftragnehmer zum Spiritus Rector seiner Arbeit, die längst nicht mehr einen simplen TV-Beitrag darstellt. Spätestens, als Nialls Vater verschwindet, erkennt Niall, dass sowohl seine eigene Geschichte, wie auch die seiner Familie, von Anfang an mit den Schicksalen der Attentäter verwoben ist.
Autorin Zoë Beck stößt ihre Leser in „Schwarzblende“ in einer dramaturgischen Achterbahnfahrt von einem Gipfel zum Nächsten, nährt neue Verdachtsmomente, nur um sie im nächsten Kapitel fast kollabieren zu lassen und spiegelt so unsere eigenen Bilder von Argwohn, Angst und Assoziationen, welche wir per medialer Imprägnation über die Spirale des Terrors im kollektiven Bewusstsein verankert haben. Natürlich wissen die Leser, wissen wir, dass am Anfang eines jeden Konflikts die Todsünden wie Gier, Stolz, Neid, Eitelkeit stehen und am Ende die apokalyptischen Reiter wie Krieg, Hunger, Pest folgen. Wir wissen, das Geld und Macht Religion missbrauchen. Aber in einer vermeintlich immer schneller drehenden Welt mit komplexen Problemen suchen wir nach einfachen Antworten, klaren Lösungen. Das ist zutiefst menschlich, denn seelischer Schmerz, auch medial geteilter, sucht nach heilender Linderung…notfalls per gesetzlicher Analgetika.
Mit „Schwarzblende“ ist der mehrfach prämierten Autorin und Friedrich-Glauser-Preisträgerin Zoë Beck ein temporeiches, vielschichtiges wie präzises Diagramm der auseinander driftenden Sollbruchstellen unseres Soziotops im Bann des IS gelungen, das nahtlos an die epische Bandbreite vergleichbarer Thriller von John Grisham oder Stieg Larsson anknüpft.
Natürlich bleibt „Schwarzblende“ in erster Linie ein Roman und bietet seinen Lesern kräftige Kurzweil auf hohem Niveau, was das Buch auch im April 2015 wieder auf die „Krimizeit – Bestenliste“ von Radio Bremen führt. Aber „Schwarzblende“ liefert dank akribischer Vorbereitung von Zoë Beck eben auch zahlreiche Grundlagen für den Diskurs um das adäquate Justieren von Toleranz und Integration, Gefahrenhorizont und Sicherheitsarchitektur, welcher mitunter eher von Angst, denn von Verstand beeinflusst wird. Und nicht zuletzt zeigt „Schwarzblende“ Leinwandformat.